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Dematerialisierung

Der Philo-Zirkel wäre nicht der Philo-Zirkel, wenn aus dem angekündigten, doch sehr ökonomischen Thema "Dematerialisierung" kein Gespräch über uns Menschen geworden wäre. 

 

Ich erinnere mich sehr gerne an meine Kindheit zurück. Meine Eltern waren neuen Technologien gegenüber sehr aufgeschlossen. Mein Vater filmte in den 90er-Jahren mit seiner riesigen VHS-Videokamera stundenlang Sonnenaufgänge in den Ferien. Mit elf Jahren bekam ich meinen ersten Computer und war von da an das PC-Genie der Familie. Es dauerte eine Weile, bis auch meine Eltern ihn zu bedienen wussten. Meine Mutter kaufte mir 1996 mein erstes Handy - es war dick und schwer und ich konnte damit telefonieren und SMS schreiben. Ungefähr ab 1998 hatten wir dann auch analoges Internet. Das heisst, es ging nur eines von beidem: Telefonieren oder Internet. Ich erinnere mich sehr gut an das Gebrüll "Schalt mal das Internet aus! Ich muss telefonieren!".

 

Ich erinnere mich, wie ich mit meinem ersten eigenen Auto - einem roten Honda Jazz - 2005 in der ganzen Schweiz und dem nahen Ausland unterwegs war, den Beifahrersitz stets voll mit ausgedruckten Wegbeschreibungen (ich stand mit Strassenkarten auf Kriegsfuss). Es müsste dann 2007 gewesen sein, als ich mir einen IPod kaufte. Nur blöd, dass Apple nur das m4a-Datenformat zuliess und ich meine eigene Musik im mp3-Format nicht hochladen konnte. Was für ein Ärger! Gleichzeitig boomte das illegale Runterladen von Musik von Webdiensten wie LimeWire, die, die nicht dabei waren, nennen es Musikpiraterie (einen schönen Artikel dazu findest du HIER). Aber wo um Himmels Willen sollte ich sonst die Karaoke-Versionen für meine Gesangsschüler_innen herbekommen? Songbooks mit Playback-CD kosteten bei Musik Hug ein Vermögen und lohnten sich einfach nicht, wenn du von 20 nur 1 oder 2 Songs gebraucht hast. 

 

Wie viel einfacher ist unser Leben heute! Ein Gerät ersetzt alle diese Dinge: Foto- und Videokamera, Musikplayer, Telefon (kennst du noch die Wählscheiben-Telefone?), Taschenrechner, Taschenlampe, Strassenkarten... und nicht nur das, es gibt auch viele neue Dinge, die mir den Alltag erleichtern: Chat, Videotelefonie, Bildbearbeitung, Video-Programme, Streaming-Dienste, KI-Tools, E-Banking, synchronisierte Kalender, Ticket-Apps. Mein Leben - tausend Apps. 

 

Macht Dematerialisierung unser Leben einfacher?

Macht diese Entwicklung unser Leben wirklich einfacher? Warum sind dann so viele Menschen gestresst? Eine Frage, der ich immer wieder begegne. Ich erzähle dazu gerne das Beispiel eines gewöhnlichen Tages meiner Grossmutter. Sie war Hausfrau und hat sich um uns alle gekümmert. Wenn meine Eltern arbeiteten, war ich bei ihr und als Vorschulkind habe ich sie zum Einkaufen im Quartierladen begleitet, bin mit ihr beim Kochen in der Küche gesessen und habe geholfen, nach der Mittagspause sind wir zusammen in den Garten gegangen, wo sich Nachbarn getroffen haben, manchmal habe ich mit andern Kindern gespielt oder auch mal mit dem alten Hausmeister einen Jass geklopft (deshalb jasse ich heute nicht mehr). Es war eine ruhige, friedliche Zeit. Die Welt war kleiner und die Probleme irgendwie auch. Eine Nachbarin meiner Grossmutter hat Regenwasser gesammelt, um Wasser zu sparen. Sie nahm sich die Zeit, das Wasser zu filtern und hat damit ihre Haare gewaschen. Wir fanden sie schrullig, aber von ihr habe ich viel über Nachhaltigkeit gelernt, ohne dafür bereits einen Begriff gehabt zu haben. Sie konnte alle Kräuter und Pflanzen benennen und wusste, welcher Tee für welches Bobo gut war. Ich glaube, in ihrem Haushalt gab es kein Stück Plastik oder Chemie. 

 

Der Alltag war in den 80er-Jahren geprägt von persönlichen Beziehungen und Gesprächen. Man lebte im Quartier, engagierte sich in und für seine Gemeinde, traf sich in der Bäckerei oder in der Dorfapotheke, nahm sich Zeit für einen Schwatz und spazierte gemütlich wieder heim. Die meisten, die ich kannte, arbeiteten in der Region, Pendeln zu einem weiter entfernten Arbeitsort war eher die Ausnahme. Ab und zu gingen wir "in die Stadt". Dort erschien mir alles so gross und glitzernd. Überall lauerten die Konsumversprechen: Kaufe das, dann wirst du glücklich.  

 

Meine Mutter war immer überaus ordentlich und gut organisiert. Es war aber nicht nur, dass in unserem Zuhause alles seinen Platz hatte, auch unser Leben war gut strukturiert. Heute erlebe ich es so: Wenn mein Zuhause gut aufgeräumt ist, ist auch mein Leben aufgeräumt. Was für überflüssige Dinge gilt, gilt auch für persönliche Beziehungen: Behalte nur das, was dir gut tut, was dich glücklich macht, was dir Energie gibt und nicht ständig Energie raubt. 

 

Aufräumen und Loslassen

Aufräumen befreit. Es ist das Loslassen. Sich von Dingen oder auch Menschen bewusst zu verabschieden, bedeutet loszulassen und sich für Neues zu öffnen. Loslassen heisst zu verzeihen und die Dinge anzunehmen, wie sie sind. Manchmal durchlebt man dabei die fünf Phasen der Trauer. Es ist ein anspruchsvoller, aber zugleich heilungsvoller Prozess. 

 

Zurück zur Frage: Macht die Dematerialisierung unser Leben wirklich einfacher? Eines ist klar: Die Dematerialisierung führt dazu, dass die Wirtschaft zur optimalen Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen weniger Ressourcen verbraucht. Damit entkoppelt sich das Wirtschaftswachstum vom übermässigen Ressourcenverbrauch, was eine notwendige Entwicklung darstellt (mehr dazu HIER). Statistiken zeigen, dass in den Industrieländern der Verbrauch an Papier, Kohle und anderen Wertstoffen zurückgeht (siehe "Mehr aus weniger" von Andrew McAfee). Gleichzeitig brauchen wir natürlich mehr Strom, um die Entwicklung der Dematerialisierung weiter voranzutreiben. 

 

Aus philosophischer Sicht stellt sich aber die Frage, was dieser ganze Vorgang mit uns Menschen macht. Verschwinden wir in eine dematerialisierte Welt? Liegen wir irgendwann nur noch da, mit einer VR-Brille auf dem Kopf und bewegen uns in virtuellen Welten? 

 

Vielleicht. Aber eigentlich böte die Dematerialisierung, die mit mehr Effizienz und höherer Produktivität einhergeht, die Chance, die Gemütlichkeit in unseren Alltag zurückzuholen. Die vielen Apps und nun auch zahlreiche KI-Tools helfen uns, "mehr in weniger" zu tun. Wir brauchen weniger Zeit, um Dinge zu erledigen. Nun liegt es irgendwie in unserer Mentalität, die frei werdende Zeit mit neuer Arbeit zu füllen. Damit beschleunigt sich laufend unser Leben. Bereits mein 10-jähriger Sohn meint: "Mami, dZiit god so schnell ome!" Er erlebt so viele Sachen an einem Tag, für die ich als Kind noch meine ganzen Ferien gebraucht hätte (okay, das ist jetzt etwas übertrieben, aber du weisst, was ich meine). 

 

Wenn wir heilen wollen von der Hyperindividualisierung, von ungesunder Beschleunigung, Mental (Over-)Load, Burnout und Depressionen, sollten wir die Dematerialisierung zum Nutzen unserer Gesundheit und der Gesundheit unseres Planeten einsetzen. 

 

Unser heutiges Key Learning:

Mach mal Pause! Räume auf, trenne dich von unnötigem Ballast und Aktivitäten, die dir nicht gut tun. Nimm dir jeden Tag Zeit für Dinge und vor allem für Menschen, die du liebst. 

 

27.01.24 Miriam Huwiler

 

PS: Ich könnte jetzt diesen Beitrag noch mit Bildern ergänzen, die mir Chat-GPT4 sehr schnell produziert. Dafür müsste ich jetzt aber Zeit investieren, um darüber nachzudenken, wie die Bilder aussehen sollen und die richtigen Prompts austüfteln. Aber weisst du was? Ich habe jetzt Wochenende und genug gearbeitet. Ich wende mich jetzt meinen Lieblingsmenschen zu. Deshalb hat dieser Beitrag keine Bilder - genau wie meine Artikel, als ich noch keine KI-Bildgeneratoren zur Verfügung hatte. Merksch öpis?


Der Philo-Zirkel ist ein interdisziplinäres Angebot der BM-Abteilung am BBZB Luzern. Er wird organisiert und verantwortet von der Fachschaft W&R unter der Leitung von Miriam Huwiler. Eingeladen sind aktuelle und ehemalige Lernende und Lehrpersonen. Gerne dürfen Freunde mitgebracht werden. Der Philo-Zirkel findet seit September 2022 statt und unsere Gruppe ist unterdessen auf gut 20 Personen gewachsen.

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